Grelle Visionen im Auspuff
Hans-Jörg Dürr's Kunst aus Auto-Zeug in der Werkstatthalle
Die nagelneue Motorhaube eines Wagens der gehobenen Klasse wird unter den Augen ihres Herstellers zersägt und dann von einem Künstler verunstaltet. Jeder der Beteiligten scheint mit dem Ergebnis zufrieden zu sein, niemand wittert ein Sakrileg. Diese Vision einer Harmonie zwischen Industrie und Kunst findet derzeit in den Reparaturwerkstätten von Mercedes-Benz ihre Verwirklichung. Die Nürnberger Niederlassung der Stern-Karossen, die schon seit vier Jahren jungen wie arrivierten Künstlern Ausstellungen ermöglicht, hat den Graphiker und Maler Hans-Jörg Dürr zu einer ungewöhnlichen Aktion eingeladen. Unter dem Motto „Kunst im Betrieb" soll Dürr, pünktlich zum 75jährigen Firmenjubiläum (am 15. November), die tristen Werkhallen mit seinen ausgefallenen Objekten verschönern. Wichtig war es beiden Seiten, daß die Exponate direkt im Werk, in Tuchfühlung mit Arbeitern und Materialien, entstehen sollen. Ausgestattet mit einem Facharbeiterlohn, neuwertigen Ersatzteilen im Wert von 10 000 Mark und mehr oder weniger aufgeschlossenen Mitarbeitern machte sich Dürr an die Arbeit.
In einer ersten Phase hatte er sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Er, der Exot informierte per Wandzeitung die Arbeiter über sich und seine Aktion. In seinem „Atelier", der ehemaligen Autowaschanlage, entstanden erste Entwürfe. Für den Maler und Graphiker ist der Weg von der zurückhaltenden, sparsamen Zeichnung zum knalligen, dreidimensionalen Objekt, ein schwierigeres Unternehmen. Er kann zwar auf sein altes Thema „Masken und Köpfe" zurückgreifen, muß sich aber mit den neuen Materialien und Örtlichkeiten auseinander setzen. Mit seinen Objekten findet er in den Werkhallen eine ernstzunehmende Konkurrenz vor: grellrote Feuerlöscher, Signalfarben und überdimensionale Rauchverbotsschilder.
Der Künstler hat die asketisch-intro-vertierte Farbigkeit seiner Zeichnungen und Graphiken zugunsten einer grellen, aggressiven Buntheit aufgeben müssen. Grundlage seiner Arbeiten ist meist eine ovale oder runde gemalte Fläche in ungebrochenen Farben: Darauf appliziert er im Werk gefundene Fahrzeugteile: Lüftungsschläuche, Gummidichtungen, Drähte und ganze Auspuffanlagen. Es entstehen Physiognomien, die zum Teil in einander verwoben sind, wobei oft der Unterschied zwischen Kopf und Maske verschwimmt.
In Kürze sollen die Objekte in den Halle installiert werden, und dann wird sich herausstellen, ob es zu einem fruchtbaren Dialog zwischen Kunst und Betrieb gekommen ist oder ob es sich bei den Objekten um bloße Dekorationen handelt. Die gesamte Aktion soll in einem vom Amt für Kulturelle Freizeitgestaltung (KUF) mitfinanzierten Katalog dokumentiert werden.
thomas kliemann
Nürnberger Zeitung, Feuilleton, 30. 10. 1986