Kunst im Betrieb
Der Künstler geht in den Betrieb. Jeden Tag pünktlich um 7.00h beginnt er seine Arbeit und mit den Kollegen verläßt er um l6.00h das Werksgelände. Mehr als einen Monat lang arbeitet H.-J. Dürr 1986 als „Kulturarbeiter“ mit Meistem, Gesellen und Lehrlingen in der Hauptniederlassung der Firma Mercedes Benz. Für seine Arbeit erhält er den Lohn eines Facharbeiters.
Der Versuch, das Ghetto des Kunstmarktes, zwischen Atelier und Galerie zu durchbrechen und andere Zielgruppen mit Gegenwartskunst zu konfrontieren, ist zwar nicht grundsätzlich neu, wurde aber in Nürnberg noch kaum gewagt.
Es ist ein Experiment in vielfacher Hinsicht: Zu Beginn des Projektes ist nicht klar, wie weit sich die beiden Parteien, der Künstler und die Arbeiter, vertragen, ernst nehmen, verstehen.
Der Künstler kennt vorab seine Rolle nicht: ob er als Hofnarr die Garnierung für einen Festakt zu besorgen hat oder ob sein Anliegen der Interaktion mit Bildem ernst genommen wird.
Für das Unternehmen, weil es nicht weiß, welche Unruhe — auch wenn es eine produktive ist — der Künstler in den Arbeitsablauf hineintragen wird.
Für den Künstler, weil er sich aus der Sicherheit seines Ateliers in einen halb-öffentlichen Raum begibt, in dem ihm mit aller Wahrscheinlichkeit Unverständnis und Vorurteile begegnen, weil er sich ferner auf die für ihn ungewöhnliche Umgebung eines hoch-technisierten Werkstattbetriebes einlässt.
Neu ist für ihn auch das Gestaltungsmaterial: Dürr entscheidet sich, mit den gleichen Materialien zu arbeiten, also mit Ersatzteilen. Frei durfte Dürr aus dem Fundus des Lagers auswählen: Kabel, Heizschläuche, Windschutzscheiben, Bleche, Motorhauben, Spiegel u.s.w. Zur Verfügung standen ihm auch die technischen Geräte der Werkstatt.
Die einzige Sicherheit, die er in den nun beginnenden Gestaltungsprozess mitbringt, ist das Leitthema an dem er während der letzten Jahre arbeitet:
der Mensch, das Bild vom Menschen, sein Zerrbild, die Maske, Beziehungen zwischen Menschen.
Dies ist auch die Sicherheit, die er den Arbeitskollegen bei der Betrachtung der entstehenden Objekte anbieten kann: es entstehen Bilder, die man erkennt... aha, ein Gesicht... oder: das ist doch ein Kopf! Dazwischen aber jede Menge Unsicherheit, Spannung Irritationen und ungewöhnliche Erfahrungen. Aus den Trittspuren auf dem Werkstattboden werden Gesichter, das Stromkabel zeichnet die Umrisse eines Kopfes nach, aus Rückspiegel werden Augen, in denen man sich wieder sieht. Der Künstler nimmt sich die Freiheit, die Ersatzteile nicht in den vorgegebenen Bauplan der Funktionsmaschine Auto einzupassen, sondern sie der Sprache der Phantasie zu übereignen. Welche Dramatik liegt darin, wenn er mit der Trennscheibe Schlitze in die l000.- DM teure Motorhaube fräst. Zum Entsetzen der Monteure. Das trifft ins Zentrum ihres Berufsstolzes. Dabei geht es nicht nur um den materiellen Wert. Hier steht noch mehr auf dem Spiel. Wenn er die durch viele Schutz- und Lackschichten auf Beständigkeit und Schönheit präparierte Oberfläche verletzt und so der Veränderung preisgibt: innerhalb weniger Wochen verändert sich der Charakter dieser Gesichter durch den fortschreitenden Rost mehrmals. Oder wenn er durch das Herausfräsen von Sehschlitzen eine andere Assoziation herausfordert: Aus der Motorhaube scheint eine Ritterrüstung zu werden. Unheimlich und trutzig. So wie im Mittelalter das Eisenkleid des Ritters für Schutz und Sicherheit stand, so gilt heute Mercedes als eines der sichersten Automobile. Gut gerüstet für den Kampf auf der Straße. Indem beide, Ritterrüstung und das Konzept „passiver Sicherheit" Stärke und Unversehrtheit demonstrieren, haben sie aber auch etwas bedrohlich martialisches. Vieles hat zwei Seiten. Dürr versucht sie aufzuspüren und ihnen ein Gesicht zu geben. Er sucht die Magie in der Technik. Dabei thematisiert er ebenso die heiteren Varianten. Ein Schlauch ist ein Schlauch und was noch? Kann auch eine Nase sein!
Er setzt Kontrapunkte. Die kleine Efeupflanze auf den dreibeinigen Werkstatthocker z.B.‚ von vielen der über 8000 Besuchern sicher übersehen. In einer Autowerkstatt hat sie eigentlich nichts zu suchen.
Oder?
Ihr künstlerisches Geheimnis wird die Pflanze über diesen Überraschungseffekt hinaus erst im Lauf der Zeit preisgeben: wenn sich ihre Blätter dem nach einer bestimmten Figur an der Wand gespannten Draht entlang gerankt haben. Und wird als „gewachsene“ Linie wahrscheinlich wieder den Umriss eines Kopfes zeichnen. Ist mit diesem Projekt erreicht worden, neue Räume, bzw. neue Publikumskreise für die Kunst zu erschließen? Das Ziel gar, aus Arbeitern Künstler zu machen, sie zum kreativen Umgang mit ihrem täglichen Arbeitsmaterial zu bewegen? Nein.
Dafiir ist das Diktat der Stechuhr und der pro Arbeitsgang normierten Arbeitszeiten zu stark. Da ist keine Zelt für Faxen. Und selbst in den wenigen Freiräumen, beim Essen in der Kantine z‚B. ist kaum ein Platz für Kunst Denn auch bei dieser hochbezahlten Arbeiteraristokratie herrscht zumindest in den Mannergesprächen eine andere Hierarchie der Werte: Fußball, Weiber, dann kommt lange nichts... Kunst schon gar nicht. Hier hat die Beuys'sche Utopie „Jeder Mensch ein Künstler" kaum eine Chance.
Aber andere wichtige Erfahrungen wurden gemacht. Zum Beispiel die reale Begegnung mit dem „Künstler“. Das war plötzlich etwas ganz nahes, selbstversändliches, hautnah, zum Anfassen. Das war für 6 Wochen ein netter Kumpel, der erklärte, auf Fragen Antworten gab, selbst Fragen stellte.Der tickte gar nicht so schlecht.
Über das Vertrauen zur Person wuchs allmählich das Interesse an seiner Arbeit, seinen Gedanken und Einfällen, seiner Kunst. Und ein bisschen ließen sie sich schon auch anstecken von diesen Ideen: Kannst Du dieses Blech da brauchen oder aus dem Krümmer was machen? Und sie nahmen auch seine Seh- und Wahmehmungsangebote, seine Irritationen an. Sie gaben zu, dass er ihnen die Augen ein wenig öffnete für die tägliche Umgebung: die Werkstatt und die Arbeitsmaterialien nimmt man ganz selten bewusst wahr.
Als die Zeitungen über das Projekt berichteten, waren sie stolz auf „ihren Künstler". Und als nach etwa einem halben Jahr die Bilder und Objekte, die seit der Jubiläumsfeier in der Werkstatt gehangen hatten, abgeholt wurden, stellte sich sogar eine gewisse Enttäuschung ein. Man hatte sich an die zunächst komischen Dinger gewöhnt, manche waren gar vertraut geworden. Und so hat die Kunst doch ein paar neue Freunde gewonnen.
Michael Popp
Katalogvorwort 1987