Plakat-Wand-Kunst

Kunst auf die Straße

Die Orte, an denen sich Kunst der interessierten Öffentlichkeit präsentiert, sind allgemein bekannt: Museum und Galerie sind die typischen Begegnungsstätten von Kunstwerk und Kunstbetrachter im urbanen Wohn- und Lebensraum.

Dass diese räumliche Spezialisierung neben dem Vorteil eines auf engem Raum konzentrierten Kunstangebots auch den Nachteil der Ausgrenzung künstlerischer Inhalte und Aktivitäten aus dem menschlichen Alltag mit sich bringt, wirft die Frage auf, ob es nicht Möglichkeiten gibt, Kunst unmittelbar in unsere - häufig architektonisch wie ästhetisch trostlose - Stadtlandschaft zu integrieren.

Der phantasie- und ideenwütige Aktionismus nächtlicher Grafiti-Sprayer ist ein Beispiel, wie sich künstlerische Ausdruckslust - mal mehr, mal weniger gekonnt - im städtischen Ambiente manifestieren und behaupten kann.

Einen anderen Weg, ausgetretene Pfade der Kunstvermittlung zu verlassen, konzipierte und realisierte 1986 der Nümberger Maler Hans-Jörg Dürr. Ähnlich gelagerte Vorläuferaktionen in München und Köln animierten ihn zu seinem Plan, Bilder statt im Museum auf Plakatwänden zu zeigen und so„Kunst und Künstler auf die Straße zu bringen.“

Ein ganzes Jahr lang sorgten daraufhin 15 Nümberger Maler, Bildhauer und Fotografen auf zwei zur Verfügung stehenden Plakatwänden für gezielte optische Irritationen im öffentlichen Raum. Das Spiel mit der formalen Vorgabe „Plakatwand“ eröffnete den beteiligten Akteuren dabei ein ganz neues Wirkungsfeld. Adressat dieser Selbstdarstellung der hiesigen Szene in Form eines kontinuierlich fortgesetzten Plakatwanddialogs war einmal ausnahmsweise nicht das kleine Häuflein fleißiger Vernissagengänger, sondem der im Bilderrausch einer mit optischen Signalen nicht gerade geizenden Konsumgesellschaft herumirrende, flüchtige Blick des anonymen Passanten. Die Plakatwand, sonst ausschließlich im Dienst kühl kalkulierter Public-Relation-Strategien wurde kurzerhand zweckentfremdet. Aus dem Transport marktschreierischen werbe und wahlkampfühlichen Grossfotopomps, der das Auge eher erschlägt, statt es zum Sehen zu verführen, wurde ein schlichtes Komunikationsangebot für den Stadtgänger: Kunst wirbt für Kunst.

Für die beteiligten Künstler, die die Ateliersklause bereitwillig mit dem Gehsteig vertauschten, ergaben sich dabei ungeahnte Schwierigkeiten: nicht nur die Widrigkeiten des Wetters, sondem auch die Skepsis der Passanten, die dieser plötzlichen Konfrontation mit Kunst abseits ehrfurchtsgebieteuder Museumsräume oft ratlos bis skeptisch gegenüberstanden, wollte bewältigt sein. Einmal präsent entwickelten die gepinselten oder collagierten Wandwerke bald eine erstaunliche Anziehungskraft für die Vorübereilenden. Die Möglichkeit, „live“ mitzuerleben, wie ein Kunstwerk entsteht, war dabei Auslöser für so manch engagierte Debatte.

Zu hoffen ist nun, dass der Versuch, Kunst unmittelbar auf die Straße zu verpflanzen, keine Eintagsfliege bleibt. Die Nümberger Plakatwandaktion hat gezeigt, dass und wie „Kunst im öffentlichen Raum" auch unbürokratisch und unpompös realisiert werden kann. Die Monotonie und Einfallslosigkeit modemer Stadtlandschaften, gipfelnd in endlosen Glasfronten und öden Betonwuchenmgen, können von derartigen künstlerischen Eingriffen nur profilieren.

Manfred Rothenberger

Februar 1987